In den letzten Tagen las ich einen Kommentar des Historikers Alfredo Jocelyn-Holt in der chilenischen Zeitung La Tercera über den Unsinn, Volksabstimmungen abzuhalten. Herr Jocelyn-Holt bezog sich auf zwei Beispiele, in denen in den vergangenen Monaten eine Abstimmung deutlich anders ausgegangen war, als sich die regierenden Politiker dies vorgestellt hatten: Der Brexit und das Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC. Kernargument von Herrn Jocelyn-Holt war dabei, dass kaum ein Diktator dieses Mittel nicht genutzt hätte, um seine Entscheidungen zu legitimieren – und deswegen das System der representativen Demokratie völlig ausreichend sei.
Ich muss zugeben, dass in den letzten Tagen das Geschehen um die Volksabstimmung hinsichtlich des Friedens mit der FARC größtenteils an mir vorübergegangen ist. Allerdings ist es der dortigen Regierung auch nur gelungen, ca. 30% der Wahlberechtigten für ihre Stimmabgabe zu begeistern. Auch hat auch mich der Ausgang der Volksabstimmung über einen Brexit mich überrascht. Doch hatte ich in den vergangenen Monaten davor die Kampagnen in Großbritannien durchaus verfolgt: Während die Befürworter eines Austritts aus der Europäischen Union durchaus kreativ eine Kampagne fuhren, die positiv orientiert war und die Menschen begeisterte, dass ein Leben außerhalb der Union durchaus möglich war, setzte die Remain-Fraktion nahezu ausschließlich auf Angst und auf das Aufzeigen von möglichen negativen Konsequenzen. Das Ergebnis sah entsprechend aus, wenn auch nur knapp.
Meiner Meinung nach ist es eine viel zu einfache Ausrede, dass Volk sei zu dumm, komplexere Fragestellungen zu verstehen und zu bewerten oder – wie es gerade mit Leidenschaft gerade nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern betrieben wird – entscheide ohnehin emotionsgelenkt. Diese Ausrede impliziert die doch sehr steile These, gewählte Politiker hingegen würden immer aufrecht und stets zum Wohle des Landes entscheiden, nachdem sie eine Thematik intellektuell vollkommen durchdrungen hätten. Dazu möchte ich rein beispielhaft auf den Beitrag von Extra3 vom 21.01.2016 verweisen, indem Bundestagsabgeordnete nach ihrer Entscheidung, unsere Soldaten in den Kampfeinsatz nach Syrien zu schicken, befragt wurden – die eine geradezu skandalöse Unwissenheit offenbart. Und das sind Fragen, in denen es nicht um die Neuregelung irgendeines Verfahrensdetails eines Verwaltungsakts geht, sondern darum, unsere jungen Soldaten in einen gefährlichen Einsatz, wenn nicht sogar in den Tod zu schicken – und da erwarte ich in der Tat von jedem Abgeordneten, dass er die Thematik vollkommen durchdrungen hat und nicht sich auf die Abstimmungsanordnung seines Fraktionsvorsitzenden oder der Parteichefin verlässt!
Ferner greift das Argument Herrn Jocelyn-Holts, in Diktaturen würden Volksabstimmungen zu Legitimation eingesetzt, völlig zu kurz: Auch Wahlen werden in Diktaturen regelmäßig abgehalten – natürlich mit den berühmten überwältigenden Mehrheitsergebnissen für die Regierenden. Aber käme jetzt deswegen jemand auf die Idee, deswegen Wahlen in einer Demokratie abzuschaffen? Nein – es sind beides Instrumente, die sowohl negativ wie auch positiv eingesetzt werden können.
Es gibt durchaus Länder, in denen Volksabstimmungen mit großem Erfolg eingesetzt werden, Paradebeispiel ist hier die Schweiz, in denen das Volk regelmäßig durchaus weise Entscheidungen trifft, oftmals gegen die eigenen persönlichen Interessen. Darüberhinaus kann ein Plebeszit durchaus ein gutes Mittel sein, die Unterstützung der Bevölkerung zu garantieren. In Deutschland führte beispielsweise nach den massenhaften Protesten des extrem teueren und in seinem Nutzen sehr fraglichen Projekts Stuttgart 21 die Landesregierung von Baden-Würtemberg eine Volksabstimmung durch, in der sich eine Mehrheit doch für die Durchführung des Projekts entschied. Seitdem sind die Proteste verstummt.
Natürlich ist es deutlich anstrengender, die Menschen von den eigenen Ideen zu überzeugen und zu begeistern. Aber es nimmt die Menschen, den Souverän, ernst. Beispielsweise hätte im Fall des Brexit-Votums die Remain-Fraktion durchaus ein positives Bild von Europa malen können: Vor 70 Jahren haben wir noch gegenseitig auf uns geschossen und im mörderischsten Krieg aller Zeiten Bomben aufeinander geworfen. Heute können wir durch Europa reisen, ohne unseren Pass vorzeigen zu müssen, wir können jederzeit umziehen, wir können morgen in einem anderen Mitgliedsland eine Arbeit beginnen – eines Tages können wir wirklich in den Vereinigten Staaten von Europa leben. In meinen Augen ist die Europäische Union eine der besten Ideen der Geschichte! Natürlich sind wir noch nicht am Ende, und die Brüsseler Bürokratie nervt auch mich gewaltig – aber das sind lösbare Probleme!
Deshalb liebe Politiker: Lernt, uns zu überzeugen und zu begeistern! Wir sind nicht zu blöd und müssen von euch bevormundet werden!
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